2002, lange bevor sie selber Mutter wurde, hat die Fotografin Pamela Rußmann begonnen, schwangere Frauen zu fotografieren. Seitdem porträtiert sie Jahr für Jahr in achtsam vorbereiteten und ausgeführten Fotoshootings eine Vielzahl von Frauen und hat nicht nur ein enorm umfangreiches Bildarchiv aufgebaut, sondern sich durch die Beschäftigung und die vielen Gespräche mit schwangeren Frauen auch inhaltlich intensiv mit den Veränderungen und emotionalen wie seelischen Ebenen auseinandergesetzt.
Exklusiv für Salon Mama hat die Fotografin & Journalistin Pamela Rußmann nun eine Reihe konzipiert, in der sie ihre bisherige Arbeit des Fotografierens von schwangeren Frauen um eine Ebene erweitert, nämlich: das Wort.
In unserem achten Interview der Mama Talks Reihe steht diesmal keine schwangere Frau im Rampenlicht. Pamela spricht mit der 45 jährigen Sabrina, selbst Mutter einer Tochter, über Ihren Alltag als Krisenpflegemama. Über Herausforderungen und Ihre Herzensangelegenheit Kindern in Not zu helfen.
Eckdaten:
- Name: Sabrina
- Alter: 45
- Beruf: selbständig
- Kinder: 1 Tochter
- Wohnort: Wien
Liebe Sabrina, ich freue mich sehr, heute bei dir zu sein. Üblicherweise besuche ich für diese Reihe schwangere Frauen kurz vor der Geburt. Und obwohl hier nur eine Tochter sitzt, mit Buntstiften zeichnet und Kuchen isst und du auch ganz offensichtlich keinen Babybauch hast, hast du trotzdem in den letzten vier Jahren zwölf Mal eine andere Art von “Geburt” erlebt – als Krisenpflegemama. Ich kannte diesen Begriff bis vor kurzem gar nicht, also ich wusste, was Pflegeeltern sind – aber was genau sind Krisenpflegeeltern und was unterscheidet sie von Pflegeeltern oder Adoptiveltern?
Wenn es Probleme in der Familie gibt und ein Kind schnell einen sicheren Platz braucht, dann springen wir ein! Krisenpflege ist Abklärungszeit. D.h. in der Zeit, in der das Kind bei mir ist, klärt das zuständige Jugendamt, ob das Kind wieder zurück in die Familie kann oder zu Langzeitpflegeeltern kommt. Der Unterschied ist schnell erklärt: auch wenn es für beide eine Herzensangelegenheit ist, sind sie unterschiedlich motiviert. Als Krisenpflegemutter möchte ich schnell zur Stelle sein und Kindern helfen. Langzeitpflegeeltern möchten auch Kindern ein sicheres Zuhause geben, darüber hinaus besteht hier noch ein Kinderwunsch – also der Wunsch ein Kind auf Dauer bei sich aufzunehmen und groß zu ziehen!
Wie bist du Krisenpflegemama geworden? Was war bei dir der ausschlaggebende Moment, diesen Weg einzuschlagen?
Manche Entscheidungen im Leben trifft man sofort und aus dem Bauch heraus. Als ich das erste Mal davon gehört hatte, dass es in Wien Krisenpflegefamilien gibt, war mir in der Sekunde klar, dass ich diesen Weg gehen möchte. Ich wusste so gut wie gar nichts über die Aufnahmebedingungen oder Konditionen. Aber mir war klar, dass ich das machen werde und so war es dann auch. Ich habe einfach gespürt, dass ich da richtig bin. Ein Gedanke, der mich von Anfang an begleitet ist der, dass ich die Hoffnung habe, wenn die Kinder eine gute Zeit bei uns erleben, können sie das vielleicht irgendwo in ihren kleinen Seelchen speichern, dass es noch Orte gibt, an denen die Welt in Ordnung ist und wo sie sicher sind. Wenn sie das später auch als Ressource abrufen können, ist das viel wert!
Ich habe das erste Mal auf Ö1 in einer Reportage von dieser besonderen Form von Elternschaft gehört und war extrem berührt von den Schilderungen der Familien, die das teilweise seit vielen Jahren machen, wie viel Liebe in ihren Worten war für die Babies, die manchmal aus herzzerreißenden Umständen kommen und den leiblichen Eltern abgenommen werden müssen. Was erfährst du vom Amt über die Säuglinge und Kleinkinder? In welchem Zustand übernimmst du sie?
Alles beginnt mit dem Anruf. Meistens eine knappe Stunde bevor das Kind kommt. Im besten Fall stehe ich da gerade im Supermarkt und kaufe ein. Es läuft in etwa so ab:” Liebe Frau Limbeck, wir haben ein Kind für sie. Ein Junge, 4 Monate alt. Eltern sind beide drogensüchtig und nicht in der Lage, das Kind ausreichend zu versorgen. Können Sie das Kind in einer Stunde übernehmen?” Dann schnapp ich mir noch Windeln und Babynahrung, fahre nach Hause und richte alles her, was ich so in einer Stunde schaffe. Ich suche vor allem schon mal Kleidung raus in der üblichen Größe für das Alter, koche Wasser ab, damit ich gleich füttern kann – denn meistens sind sie hungrig. Dann warte ich aufgeregt! Wenn das Kind da ist, nehme ich es sofort in den Arm – auch die Größeren; wenn sie es zulassen, heiße es herzlich willkommen, tausche mich noch mit der Sozialarbeiterin aus, die das Kind gebracht hat und versuche noch möglichst viele Informationen zu erhalten. Oft sind die Abnahmesituationen eher dramatisch und die Kinder haben nichts bei sich. Einmal habe ich ein Kind im Schlafanzug übernommen, völlig verschmutzt, aber vor allem traumatisiert, weil bei der Abnahme die Cobra dazu geholt warden musste.
Wie wird man auf diese Tätigkeit vorbereitet? Wird man da auch einem psychologischen Check unterzogen? Nur weil man selber Mama ist, heißt das ja nicht, dass man mit einem fremden Kind umgehen kann, dessen Vorgeschichte man nicht weiß und das tage- und nächtelang brüllt…
Das Referat für Adoptiv-und Pflegekinder hat ein sehr gutes Schulungskonzept. Es dauert ca ein halbes Jahr, bis man die Bewilligung in den Händen hält. Im Kurs werden alle möglichen und unmöglichen Szenarien thematisiert und die TeilnehmerInnnen an die Aufgabe sehr selbstreflexiv herangeführt. Wie man dann tatsächlich mit tagelangem Schreien umgeht, muss man dann schon selbst rausfinden. Ich hatte schon ein Schreibaby, das wirklich 8 Wochen durchgeschrien hat – auch nachts. Da war ich schon richtig am Ende – das haben auch die Sozialarbeiterinnen gesehen und sofort gefragt, ob ich einen Krisenwechsel brauche. Zum Glück war es nach 8 Wochen vorbei und das Baby konnte sich endlich entspannen, hat dann sogar durchgeschlafen und auch ich konnte mich erholen. Wir können, dürfen und sollen über alles reden – das ist sehr wichtig! Keine von uns muss Heldin spielen und es ist ok, wenn man mal nicht mit einem Kind zurecht kommt. Aber die schwierigste Zeit sind die ersten zwei Wochen, danach spielt sich in der Regel alles gut ein. In der Anfangszeit schreien und weinen fast alle Kinder. Sie brauchen viel Sicherheit. Wenn sie erst mal Vertrauen gefasst haben, beginnt der schöne Teil der Krisenpflege. Sie machen große Sprünge in der Entwicklung, sind fröhlich und ausgeglichen.
Du hast selber eine Tochter im Volksschulalter – wie sieht sie die wechselnden “Geschwister”? Und sind auch weitere Familienmitglieder involviert, wie Opas und Omas, Onkel und Tanten, oder dein Freundeskreis?
Meine Mutter springt immer wieder mal ein, auch Nachbarn und Freunde helfen, wenn ich mal meine Tochter wegen der Termine in der Krisenpflege unterbringen muss. Ohne soziale Ressourcen ist es nicht machbar. Für meine Tochter ist es bestimmt wichtig für ihre soziale Kompetenz, auch wenn sie sich auf unsere Auszeiten freut, weil wir dann Dinge gemeinsam machen, die wir mit den kleinen Gästen nicht machen können. Diese Auszeiten genießen wir beide sehr. Sie behandelt jedes Kind, wie ein neues Familienmitglied und hat schon im Kindergarten erzählt, dass sie Krisenpflegeschwester ist! Sie hat früh verstanden, dass es eine gemeinsame Aufgabe ist.
Dürfen die leiblichen Eltern das Kind eigentlich sehen? Wie läuft so ein Besuch ab?
In der Abklärungszeit/Krisenpflege sind wöchentliche Besuchskontakte im RAP (Referat für Adoptiv-und Pflegekinder) vorgesehen. Hier können die leiblichen Eltern eine Stunde pro Woche in den dafür vorgesehenen Räumen mit den Kindern spielen. Diese Besuchskontakte sind begleitet von einer Sozialarbeiterin, die die Interaktion beobachtet. Auch ich bin teilweise dabei, um Fragen der Eltern zum Kind zu beantworten.
Und wie geht es dir, wenn du auf die Menschen triffst, deren Baby du betreust? Wie reagieren sie auf dich?
Das erste Zusammentreffen ist immer sehr emotional – für alle Beteiligten. Die Eltern geben dem Jugendamt die Schuld, weil sie ihnen ihr Kind wegnehmen. Wir Krisenpflegeeltern sind da eher wie “die Schweiz” – wir kümmern uns ja nur um ihr Kind und werden selten als Konkurrenz gesehen. Mir tun fast alle betroffenen Eltern leid und ich verurteile sie nicht, weil sie selbst so bedürftig sind oder auch in ihrer Kindheit nicht gelernt haben, was es heißt, auf die Bedürfnisse eines Kindes einzugehen. Dieser Zugang überrascht mich selbst immer wieder und oft konfrontieren mich andere Menschen damit, dass es doch zu verurteilen ist und jeder Mensch die Verantwortung für sein Handeln trägt. Das ist völlig richtig, aber wenn man diese Eltern sieht und kennen lernt, bleibt einfach nur Mitgefühl. Natürlich heißt das nicht, dass Kinder bei ihren Eltern bleiben sollen, weil sie selbst so arm sind. Hier geht es schon und ausschließlich um das Wohl der Kinder, und wenn die Eltern es nicht schaffen, dann gibt es die Langzeitpflege.
Ihr müsst euch ja nach einer gewissen Zeit von dem Kurzzeitfamilienmitglied wieder verabschieden, weil es entweder zurück zu den leiblichen Eltern darf oder eine fixe Pflegefamilie erhält. Ich weiß, du siehst das als deine Arbeit an – aber trotzdem ist es ein Abschied von einem kleinen Menschen, mit dem man sehr viel Zeit verbracht hat, mit dem man intensive Momente erlebt hat und für den man natürlich auch was empfindet. Wie geht es dir mit den Abschieden? Und gab es schon mal den Fall, dass du überlegt hast, eines der Kinder fix bei dir aufzunehmen in Langzeitpflege?
Meine Motivation war von Anfang an, den Kindern zu helfen und da gehört der Abschied einfach dazu, um Platz für ein neues Kind zu schaffen. Es geht mir auch gut damit, wenn der Fall gut ausgeht. Ob Langzeitpflege oder zurück zu den Eltern. Was gut für die Kinder ist, ist auch gut für mich. Zur Zeit betreue ich gerade mein 12. Kind und ja, es waren schon einige “Herzenskinder” dabei, aber um ein Kind zu behalten, müsste ich in die Langzeitpflege wechseln und könnte zumindest die nächsten 2-3 Jahre die Krisenpflege an den Nagel hängen. Außerdem möchte ich kein weiteres Kind groß ziehen. Das steht fest.
Wie nennen dich die Pflegekinder eigentlich?
Aller Versuche zum Trotz nennen sie mich “Mama”. Sie hören das ja auch von meiner Tochter und ich heiße nun mal “Mama” bei uns zu Hause. Wenn sie so klein sind, verstehen sie auch nicht, warum sie mich mit meinem Vornamen ansprechen sollen, Bei den 2-3 Jährigen funktioniert es manchmal.
Kommt nach einem Abschied sofort das nächste Kind zu dir? Oder gibt es dazwischen Erholungsphasen?
Ja, auf jeden Fall. Das braucht man unbedingt. Ich nehme mindestens 2 Wochen, max. 3 Monate im Jahr Auszeit.
Krisenpflegeeltern erhalten vom Jugendamt einen fixen monatlichen Betrag als Aufwandsentschädigung, mit dem man Kleidung, Lebensmittel, Medikamente, Spielsachen kaufen muss, also wirklich alles, was das Pflegekind braucht. Das ist aber kein Einkommen, von dem man sein Leben bestreiten kann – das heißt derzeit muss man sich das Krisenpflegeelterndasein “leisten” können, es steckt in Wahrheit sehr viel Idealismus, Hingabe und gelebte Menschlichkeit dahinter. Sollte es deiner Meinung nach zu einem bezahlten Beruf umgewandelt werden? Was wären die Vorteile, was die Nachteile?
Vor etwa 2 Jahren habe ich gemeinsam mit einer anderen Krisenpflegemutter den Verein “Artemes – zur Unterstützung von Krisenpflegeeltern (KPE)” gegründet. Wir setzen uns dafür ein, dass KPE ein Gehalt bekommen, von dem man auch Miete zahlen kann – also leben kann. Es liegt nun noch am Stadtrat, das zu genehmigen. Wir hoffen, dass wir noch 2017 damit rechnen können. Ziel ist dabei auch größere Kinder also 4-5 Jährige in Krisenpflegefamilien unterbringen zu können, was nicht möglich ist, weil nur wenige dieser Aufgabe nachgehen können, also es sich leisten können, Kinder bei sich aufzunehmen und auf eine berufliche Karriere verzichten. Auch Pensionsversicherung ist hier ein wichtiges Thema. Selbst für AlleinerzieherInnen wäre es toll, weil sie ihre eigenen Kinder nicht fremd betreuen lassen müssten und zu Hause sein könnten! Es gebe also viele Vorteile – auf allen Seiten.
Liebe Sabrina, vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast für das Gespräch und alles Gute!
Weiterführende Links:
Verein „Artemes – zur Unterstüzung von Krisenpflegeeltern“